War nur Lug und Trug
Wofür wir die Schnauze bei Wind und Wetter
Haben hingehalten und das Gekletter
Am antifaschistischen Schutzwall für Kunden
Des schmutzigen Kapitals unterbunden?
Hund des NVA-Grenzsoldaten in der Szene "Der Mauerhund"
Mit "Furcht und Hoffnung der BRD", im Januar 1984 von Horst Siede am Peymannschen Bochumer Ensemble herausgebracht, wirft Franz Xaver Kroetz in 15 Szenen ein Schlaglicht auf den deutschen Alltag Mitte der 80er Jahre. Heiner Müllers "Wolokolamsker Chaussee", von Alfred Kirchner im Mai 1985 auszugsweise ("Russische Eröffnung") am gleichen Hause inszeniert, setzt sich bruchstückhaft mit dem real existierenden DDR-Sozialismus auseinander.
Nun hat Manfred Karge, langjähriger Theatermacher in Ost-Berlin und nach dem Biermann-Rauswurf ständiger Begleiter Claus Peymanns ("Die Eroberung des Südpols"), den Versuch unternommen, in acht "Mauerstücken" die deutsch-deutsche Wendezeit auf die Bühne zu bringen.
Zunächst im Wiener Akademietheater, inszeniert als lautes Kabarett von Karge selbst, nachdem Claus Peymann hingeschmissen hatte. An der Donau waren während der Sommerpause sieben Szenen entstanden zusammen mit Burgschauspielern, Schauspielschülern und Absolventen des Wiener Max-Reinhardt-Seminars. Tenor nach der Uraufführung am 20. September 1990: falsches Stück am falschen Ort.
Bevor die "Mauerstücke" in Albert Hetterles Maxim-Gorki-Theater im Schatten der Ost-Berliner Humboldt-Universität und damit im Zentrum der "neuen BRD" erneut auf den Prüfstand kommen, wagt Uwe Jens Jensen, ausgewiesener Spezialist für das scheinbar so leicht zu machende Leichte ("Unsere Republik", "Solo für Tana"), eine unverkrampfte Parodie mit Musik (Alfons Nowacki), hinter deren heiterer Fassade sich ein melancholischer Kern verbirgt. Premiere der Deutschen Erstaufführung war am 17. November 1990.
Auf Rosie Krines (Vor-) Bühne dominiert, wie auf dem Cover des Streitobjektes Programmbuch, das Rot gegenüber Schwarz und Gold - Wunsch versus Wirklichkeit? In der äußersten Ecke aktuelle Symbole der Nach-Wende-Zeit: Krimsekt-Pulle und ein Pflasterstein.
Der Eiserne Vorhang, auf dem Stücktitel mit Kreide in Versalien geschrieben ist, ist tief heruntergezogen, die sieben Szenetitel kommen in Brecht-Manier aus dem Off, das apokalyptische Finale "Der Schwanendreher" zur Musik Hindemiths wird in Bochum nicht gespielt.
"Josef und Maria", die biblische Geschichte als Melodram mit dem antiken Blutpathos von Jason und Medea (Karge inszenierte Jahnn kürzlich in Wien), der Bethlehemer Stall steht mitten in Kreuzberg. Ein Mann (Armin Rohde) findet nach einer blutigen Ostberliner Demo Unterschlupf bei einer Westberliner Kellnerin (Katharina Linder). Wendezeit. Die Boulevardpresse West greift einen besonders grausigen Mordfall auf: ein neugeborenes Kind wird in zwei Hälften geteilt und beiderseits der Mauer liegengelassen.
"Sicher ist sicher", eine Stasi-Farce in Slapstick-Manier als "Faust"-Paraphrase. Genosse Schmidt (Volker Mosebach) wird am "Tag der Republik" mit dem Vaterländischen Orden ausgezeichnet. Doch er denunziert sich selbst und wird vom Offizier Meier (Oliver Nägele) liquidiert, der wiederum von seinem Vorgesetzten Müller (Manfred Böll) hingerichtet wird. Aber auch ihn ereilt das Schicksal in Form der Stimme des Ministers - und er tötet sich selbst. Alle drei Hinweggerafften treffen sich in der Hölle wieder - und begegnen dem Minister (Wolfgang Feige), der sich inzwischen den neuen politischen Herren angedient hat. Der Minister bietet Schmidt einen Job als Fahrer an...
Es folgt mit "Der Fehltritt" eine gar nicht so witzige, weil alltägliche Kabarett-Nummer aus dem wiedervereinigten Berlin, in der sich Micheline Herzog als stürmische Ost-Geliebte eines West-Spießers (Oliver Nägele), der gar nicht daran denkt, sich von seiner Gattin scheiden zu lassen, auszeichnet - übrigens auch beim begeisterten Publikum.
Das dialektische Mittelstück, "Der Mauerhund", ist das beste - und das älteste der "Mauerstücke", bereits am 7. Juni 1990 am Londoner Royal Court Theatre uraufgeführt im Rahmen eines internationalen Wettbewerbs. Ein desillusionierter Volksarmist und sein linientreuer Hund (Volker Mosebach in einer Paraderolle) dösen an der schon löchrigen Berliner Mauer. Als ein offenbar westdeutscher Kaufmann das Terrain sondiert, will der NVA-Grenzsoldat vom "antifaschistischen Schutzwall", den es zu sichern gilt, nichts mehr wissen. Er erlegt für seinen vierbeinigen Kameraden einen Hasen - und für sich den Wessi gleich mit. Mit Hilfe seines Outfits will er ein Leben im Kapitalismus beginnen. Uwe Jens Jensen gelingt es mit einem kleinen Kunstgriff, diese Groteske im Zeichen des untergehenen Sozialismus auf die spielerisch-leichte Ebene der anderen Mauerstücke herunterzuziehen: Ein arg ergrauter Karl Marx lugt durch einen Mauerspalt...
Einzelschicksale werden auch in der "Testamentseröffnung" zum gesellschaftlichen Paradigma: beim Übergang von der Marx- und Murx- zur Marktwirtschaft haben einmal mehr die kleinen Leute das Nachsehen. Ein langgedienter "Held der Arbeit" verliert seine Stelle und bringt sich um. Sein Sohn (Volker Mosebach) sinnt auf Rache und dringt in das Chefbüro ein, in dem sich der frisch gewendete Betriebsleiter (Oliver Nägele) mit seiner attraktiven Sekretärin (Katharina Linder deutet an, daß sie mehr drauf hat, als ihr bisher in Bochum zugetraut worden ist) geradezu häuslich eingerichtet hat. Doch die Vergeltung endet in einer nur vordergründig lustigen Kasperlgeschichte mit bitterem Nachgeschmack...
Die hintergründige Erzählung "Ein Denkzettel" wird dagegen in Bochum hastig verschenkt - Petra Kallkutsche ist keine Lore Brunner, die in Wien u.a. an der Seite von Therese Affolter, Martin Brambach, Herma Beyer, Adi Hirschall, Oda Thormeyer, Stephanie Liebscher und Hans Dieter Knebel überzeugte in diesem Treppenhaus-Monolog über die unfreiwillige Denunziation einer RAF-Terroristin durch eine vereinsamte DDR-Spießbürgerin.
Den furios-fetzigen Schlußpunkt bildet die Nibelungen-Parodie "Ostfotze". Gunther (Volker Mosebach), Gernot (Oliver Nägele), Giselher (Thomas Wupper überzeugt als Wessi-Rocker) und Kriemhild (Micheline Herzog darf ganz neue Saiten aufziehen) reiten auf ihren Kawasakis gen Osten, obwohl ihnen die Schlaglöcher "unheimlich auf den Sack gehen". Ziel ist die Pankower Kellnerin Brunhild (Katharina Linder), die es allabendlich gleich mit dreizehn Kerlen aufnimmt. Da muß Siegfried (Armin Rohde glänzt als "Held der Arbeit" in allen Stellungen) von der Kolchose "Flotter Otto" einspringen, denn die Ossis, so geht hierzulande die Mär, haben im Bett mehr drauf. Immerhin, wo doch sonst bei ihnen nichts zu holen ist. Die "Tragödie" nimmt ihren Hebbelschen Lauf bis zum guten Schluß: Kriemhild verzichtet auf Rache und zieht mit Volker (Manfred Böll) lieber ab in Grüne.
In dieser Schlußszene schickt der Regisseur Grüße an Steckel-Vorgänger Claus Peymann an die schöne blaue Donau: Manfred Böll kommt mit der regenbogenfarbenen Haarlocke des Wiener Mozart-Jahres daher. Ovationen für Uwe Jens Jensen, der immer auch ein Stück des Peymann-Glanzes verkörpert, welcher für bessere, weil interessantere, farbigere Theaterzeiten an der Bochumer "Kö" steht. Und Buhrufe für einen müde wirkenden Manfred Karge, der die Rettung seiner "Mauerstücke" nur dieser luftig-leichten, 'mal kabarettreifen, 'mal nachdenklichen Inszenierung zu verdanken hat.
Wer jetzt im Foyer das Programmbuch mit dem kompletten Text aller acht Stücke und einem lesenswerten Gespräch zwischen Autor und Regisseur erwirbt, wird auf dem Rücktitel das altbekannte AKW-Zeichen finden. Jensen hat sich nur für den Premierenabend mit seinem Gag, das einstige DDR-Staatssymbol mit Hammer, Sichel und Ährenkranz zu durchkreuzen, durchsetzen können. Da versteht der ob des Niedergangs des real existierenden Sozialismus trauernde Intendant Frank-Patrick Steckel keinen Spaß.
Wer das Gastrecht frech mißbraucht, muß gegenwärtig sein, vor die Tür gesetzt zu werden. Kein Akt der Zensur, aber ein Theaterdonner auf Kosten des Bochumer Publikums, das sich ein Direktoriumsmitglied Jensen sehnlich erhofft hat - als Gegengewicht zum amtierenden Alleinherrscher, der offenbar keine Götter neben sich erträgt. Steckel hat eine weitere Zusammenarbeit mit Uwe Jens Jensen ausgeschlossen.
Pitt Herrmann
Manfred Karge
Mauerstücke
Schauspielhaus Bochum