Auf besonders kunstvolle Weise verknüpft Florian Zeller in "Vater" Form und Inhalt. Andres Verlust der Orientierung in der Welt sowie die Zunahme seiner Erinnerungslücken werden einerseits durch die Wiederkehr von Szenen. Die Erinnerung an einschneidende Momente, um die seine Gedanken fortwährend kreisen, gekennzeichnet. Andererseits werden durch die Doppelung von Figuren - von Anne und ihrem Lebensgefährten Pierre - die Irritation und das damit einhergehende Unwohlsein deutlich, das Andre verspürt, wenn er selbst seine Familie nicht mehr erkennt.
Annelie Mattheis, Dramaturgin am Schauspielhaus Bochum
"Was ist passiert?" fragt eine sichtlich genervte Tochter Anne (Xenia Snagowski), nachdem ihr Vater Andre (Bernd Rademacher) nun schon seine dritte Pflegehilfe vergrault hat. Und mehr noch: sie mit der Gardinenstange traktiert hat. Es sei nichts passiert, wiegelt Papa Andre ab. Was an den Löchern in seinem Gedächtnis liegt, vor allem aber daran, dass seine Tochter nichts davon erfahren darf. Andre will sich schließlich in den eigenen vier Wänden nicht wie ein kleines Kind behandeln lassen. Zudem: Hat Anne, nun wirklich nicht seine Lieblingstochter, vielleicht gar ein eigenes Interesse an seiner Wohnung? Will sie ihn deshalb in ein Heim abschieben, um mit ihrem Freund Pierre (Roland Riebeling) hier einziehen zu können?
"Bei uns passieren merkwürdige Dinge": Wer ist die Frau (Kristina Peters) in seiner Wohnung, die behauptet, gerade vom Einkaufen zurückgekommen und seine Tochter Anne zu sein? Wer ist der Mann (Nils Kreutinger), der so penetrant selbstverständlich in der Zeitung blättert, als sei er hier zu Hause? Bernd Rademachers von vornherein für einen pensionierten Ingenieur eher schluffiger Andre ist zu Beginn der einhundertminütigen Inszenierung Alexander Riemenschneiders, die am 13. Februar 2016 in den Bochumer Kammerspielen Premiere feierte, noch ganz gut drauf und frischt bei der jungen Laura (Sarah Grunert), der neuen Pflegerin, nicht nur sein verschüttetes Charme-Repertoire auf, sondern auch die eigene Biographie.
Doch schon bald geraten Ort und Zeit durcheinander. Andre, der kaum noch aus dem Pyjama herauskommt, blickt sich mit den angstvollen Blicken eines gehetzten Tieres in den vier Wänden um, die sich ständig zu verändern scheinen. Und kaum mehr die eigenen genannt werden können. Will Anne nun mit Pierre nach London ziehen oder nicht? Andre wird von Szene zu Szene misstrauischer, klappriger und wortkarger. Und muss sich von Pierre anbellen lassen: "Wie lange wollen Sie uns eigentlich noch verarschen?"
Am Ende nimmt Andre die Klinik und die Krankenschwester wie einen Ort und eine Gestalt aus einer anderen Welt wahr. Wie er zuvor vergeblich nach seiner bereits vor Jahren verunglückten jüngeren (Lieblings-) Tochter Elise gerufen hat, die er in der offenen, freundlichen Laura wiederzuerkennen glaubte, ruft er jetzt nach der inzwischen in London lebenden Anne. Und nach seiner Mutter...
Der 1979 in Paris geborene Romancier und Dramatiker Florian Zeller hat mit "La Pere", nach der Uraufführung am 20. September 2012 am Pariser Theatre Hebertot mit dem französischen Bühnen-Oscar "Moliere" ausgezeichnet, eine, so der Untertitel, "tragische Farce" geschrieben über Demenz und den Verlust der Orientierung in der Welt. Seine 15 raffiniert verschachtelten, aus der Chronologie der Ereignisse herausgelösten Szenen sind aus der Perspektive des Erkrankten geschrieben. Mit den ungläubig-erstaunten Augen Andres sehen wir, wie sich seine Umgebung fast unmerklich, aber stetig verändert. Und fühlen mit ihm die wachsende Unsicherheit ob der nicht länger zu leugnenden Gedächtnislücken.
Was an eine Umsetzung auf der Bühne hohe Ansprüche stellt, die Ulrich Wallers Deutschsprachige Erstaufführung am Hamburger St. Pauli-Theater, der Spielbudenplatz-Premiere am 30. März 2015 folgte drei Wochen später das mit stehenden Ovationen gefeierte Gastspiel im Recklinghäuser Ruhrfestspielhaus, dank eines grandiosen Ensembles um Volker Lechtenbrink und Johanna Christian Gehlen voll erfüllte.
Mit der die Bochumer Neuinszenierung Alexander Riemenschneiders nicht mithalten kann. Was weniger am durchaus berührenden Ensemble um Bernd Rademacher liegt als an dem auf Dauer störenden Eigenleben des Bühnenbildes von David Hohmann: Ständig verrückt ein achtköpfiger Bewegungschor (David Attenberger, Katarina Bock, Nikita Buldyrski, Malina Hoffmann, Sefa Küskü, Isabel Martin, Vanessa Pawlikowski, Luis Volkner) das Mobiliar, um die veränderte Wahrnehmung in Andres Kopf zu versinnbildlichen.
"Vater" steht wieder am 25. Februar, 5., 15., 19. und 27. März sowie am 2. April 2016 auf dem Spielplan, Karten unter www.schauspielhausbochum.de und Tel. 0234/33 33 55 55.
Pitt Herrmann
Florian Zeller
Vater (Der Vater/La Pere)
Schauspielhaus Bochum, Kammerspiele