Lopachin: "Eine endgültige Entscheidung muß gefällt werden - die Zeit bleibt nicht stehen. Die Frage ist doch ganz einfach. Sind Sie einverstanden, Ihr Land für Landhäuser bereitzustellen, oder nicht? Sagen Sie ein Wort: ja oder nein! Ein Wort!"
Ranjewskaja: "Wer raucht denn hier diese widerlichen Zigarren..."
Anton Tschechow: "Der Kirschgarten"
Vielleicht liegt es an einer mangelnden Tschechow-Inszenierungstradition in Bochum, daß die Inszenierung des "Kirschgarten" durch das DDR-Team Manfred Karge/Matthias Langhoff, die als letzte Saisonproduktion nach vier Voraufführungen und einer öffentlichen Probe am 3. Juli 1981 an der Bochumer "Kö" endlich Premiere feierte, so danebenliegt.
Denn nur zweimal zuvor ist Tschechow bei uns auf die Bühne gekommen: 1973/74 präsentierte Peter Zadek eine vitale, kräftige, lebenslustige "Möwe", und 1977/78 inszenierte Jiri Menzel eine sehr leise, atmosphärische, ja geradezu poetische Kobrynskische "Dame mit dem Hündchen". Wer erinnert sich nicht an Fritz Schediwy, Beate Tschudi und Tana Schanzara?
Im 1981er Bochumer Tschechow ist nun ein Weder-Noch zu sehen, das ratlos macht. Die nicht zuletzt durch ein verschwenderisches Lotterleben in Paris hochverschuldete Gutsbesitzerin Ranjewskaja (Anneliese Römer) ist gezwungen, ihr Gut zu verkaufen. Allein durch Teilverkauf und Parzellierung des wunderschönen Kirschgartens könnte es gerettet werden - aber dazu ist niemand in der Familie bereit und so ersteigert der Kaufmann und erfolgreiche Spekulant Lopachin (Branko Samarovski), Sohn eines früheren Leibeigenen, das Gut.
Der Kirschgarten als Symbol für den Untergang der Feudalherrschaft und den unaufhaltsamen Aufstieg einer neuen, reichen, bürgerlichen Klasse - zugleich ein Symbol für Schönheit und Kultur, für Ökonomie und Rentabilität. Der Obstanbau wirft nichts mehr ab, Datschen für die Städter aber sind gefragt.
Anton Tschechows 1904 in Moskau uraufgeführte Komödie - ein aktueller Stoff fürs zeitgenössische Theater? Sollte man meinen, schließlich hat DDR-Emigrant Thomas Brasch das Stück neu übersetzt. Doch bereits im Januar 1979 anläßlich seiner Neubearbeitung des Tschechowschen Frühwerks "Platonow" äußerte sich Brasch so: "Ich kann nicht einen Vorgang, der 1881-82 spielt, nach seinem Wert für die Gegenwart fragen, sondern ich kann nur versuchen, mich in einem solchen Vorgang wiederzuerkennen. Ich fände es auch kurzschlüssig zu sagen, was interessiert mich so ein Vorgang für heute, um daraufhin kurzschlüssig zu aktualisieren. Also zu sagen: Es ist genauso wie heute."
Kurzschlüssig aktualisieren dagegen die beiden Ost-Berliner Regisseure, und das mit zum Teil sehr platten Mitteln (Kostüme, Bühne, Motorsägengeräusch im Schlußakt). Sie sind auch allein dafür verantwortlich zu machen, daß die Situationskomik des greisen Dieners Firs (viel zu junge Besetzung: Gert Voss mit grandioser Bühnenpräsenz über knapp drei Stunden) sowie des ungeschickten Kontoristen Jepichonow (Urs Hefti) zum bestimmenden Element der Inszenierung geworden ist. Statt elegischer Melancholie nun saftig-kurzweiliges Volkstheater, das die Gattungsbezeichnung "Komödie" mit Schadenfreude verwechselt.
Anja dagegen (Katharina Hill), 17jährige Tochter der Ranjewskaja, fristet ein Randdasein: der "Kirschgarten" in Bochum ist ohne jede Hoffnung. Die alte Kaste stirbt mit dem greisen Diener Firs, die neue des Kaufmanns Lopachin wird auch nicht überleben, und gar die revolutionäre des Studenten Trofimow (Hansjürgen Gerth) kommt über Sprechblasen nicht hinaus. Allein ein "Reisender" (Manfred Karge) dokumentiert das Heute: er schnorrt ein Goldstück und macht sich belustigt davon. Tschechow als ein früher Samuel Beckett - das hatten wir bei Roberto Ciulli vor einigen Jahren in Köln bereits.
Aus dem Ensemble noch zu nennen Michael Rastl als Bruder Gajew, Lore Brunner als Stieftochter Warja, Lore Stefanek als Gouvernante und Claudia Burckhardt als Zimmermädchen Dunjascha.
Pitt Herrmann
Anton Tschechow
Der Kirschgarten
Schauspielhaus Bochum