Ihre unvergleichlich blauen Augen waren es, die ihr das Leben gerettet haben.
Wie in seinem ersten, 1945 herausgekommenen Roman „Beneath the stone“ macht George Tabori in seiner Erzählung „My Mother's Courage“, die er später zu einem Hörspiel umgearbeitet und dramatisiert hat, einen Nazi-Offizier zum „Helden“. Einerseits bedient dieser die Maschinerie des Massenmordes, indem er Transporte nach Auschwitz durchführt, andererseits rettet er eine Jüdin vor der Gaskammer und macht sich sehr deutsche Gedanken darüber, wie weit man gehen muß, um vor Gott ein Gerechter zu werden.
Dabei erzählt der in Budapest als ungarischer Jude geborene Weltbürger Tabori eine Parabel über das Verhältnis von (deutschen) Christen und Juden: ein wohlhabender jüdischer Geschäftsmann wird von Christen ermordet, um als echter Leib und echtes Blut Gottes die Gläubigen beim Abendmahl von allem Übel zu erlösen. Der Massenmord an den Juden als deutsche Konsequenz mißverstandener Liebe?
„My Mother's Courage“ ist jedoch in erster Linie die Geschichte der Judendeportation aus Budapest ins Vernichtungslager Auschwitz und die märchenhafte Geschichte eines „kleinen Umwegs“, der unerwarteten Rettung von Taboris sechzigjähriger Mutter Elsa (ihr Mann dagegen ist im KZ ermordet worden). Dabei scheut der Autor wie in seinen sonstigen Werken vor keinem Tabubruch zurück: im Viehwaggon kommt es zum Beischlaf als allerletzter menschlicher Regung vor der „Endlösung“ durch Zyklon B. „Flucht in den Witz“ hat Tabori im Proustschen Fragebogen des FAZ-Magazins seinen Hauptcharakterzug bezeichnet.
Die Geschichte beginnt anekdotisch: an einem Sommervormittag des Jahres 1944 macht sich Elsa Tabori auf den Weg, um mit ihrer Schwester Martha Romme zu spielen. Sie wird von zwei reaktivierten Polizei-Pensionären auf der Straße verhaftet. Und nun beginnt eine elfeinhalbstündige Odyssee – mit gutem Anfang, die Verhaftete entkommt zunächst per Straßenbahn, und gutem Ende, das Otto Kuklas Zelt-Ensemble-Inszenierung, die Mitte März 1993 für eine knappe Woche im Bochumer Prinz-Regent-Theater gastierte, bereits nach knapp neunzig Minuten erreicht.
Crescentia Dünßer ist in den Frauen-, Peter Schwietzke in den Männerrollen zu sehen. Das Stück, 1979 in München uraufgeführt, ist kein Drama im eigentlichen Sinn, sondern Prosa, erzählt in der für George Tabori charakteristischen lakonischen Manier. Deshalb versucht Otto Kukla, der „dritten Person“, der epischen Distanzierung der Personen von sich selbst, mit theaterfremden Mitteln beizukommen. Eine Spielzeugeisenbahn fährt nach Auschwitz, eine Filmprojektion dokumentiert eine Fahrt über deutsche Autobahnen nach Dachau bei München und stellt so einen unmittelbaren Bezug zwischen Vergangenheit und Gegenwart her wie ein kurzer, greller Spot mit neofaschistischen Punk-Songs aus der Naziparolen-Sprühdose.
Kukla dröselt den undramatischen literarischen Text mit Wiederholungen und Verfremdungen auf, vermeidet allzu deutliche Identifikationsdramaturgie. Obwohl die Dünßer im Kleinen Schwarzen (mit Judenstern) und Blumenhütchen schon äußerlich eine anrührend zerbrechliche Figur abgibt.
Und Peter Schwietzke spielt die tumben NS-Bullen wie große dumme Jungen, die ein Herz für die grazile Oma haben, die sie eigentlich ins Gas schicken sollen – und wohl auch wollen. Nur wenige Requisiten und die Geräuschkulisse aus dem Off sorgen für authentische Atmosphäre, angereichert mit Zitaten, welche wie kurze szenische Schnipsel die Er-Erzählung unterbrechen. Tabori, da bin ich mir ganz sicher, hätte seinen Spaß an der unkonventionellen Art der Biracher.
Trotz aller (geschilderten) Brutalitäten, Anzüglichkeiten und verletzten Tabus liegt eine melancholisch-altersweise Stimmung über dem, so der Untertitel, „deutschen Theaterabend“. Historischer Nachhilfeunterricht auf eine solch' poetische Weise ist effektiver als jede Spiegel-TV-Reality-Show, bei Kukla satirisch aufs Korn genommen mit einer zur Fernsehshow mutierten Erschießungsszene. „Es gibt immer ein nächstes Mal“: Wollen wirs nicht hoffen! Oder mit der zur „steinernen Mutter“ mutierten Titelheldin ausrufen: „Beim nächsten Mal, das es sicher geben wird, werde ich ihnen die Fressen mit dem Hammer zerschmettern.“
Das bisher im bayerischen Birach beheimatete Zelt-Ensemble-Theater der beiden langjährigen Bochumer Peymann-Ensemblemitglieder Otto Kukla und Crescenia Dünßer, gerade für ihre Fleißer-Inszenierung „Fegefeuer in Ingolstadt“ mit dem Regie-Förderpreis der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste ausgezeichnet, geht mit „My Mother's Courage“, Premiere war Ende 1992 im Sindelfinger Theaterkeller, auf Abschiedstournee quer durch die Republik, bevor es zur neuen Spielzeit 1993/94 seßhaft wird und das Tübinger Zimmertheater übernimmt.
Mitte März und damit just zum Gastspiel der in Bochum unvergessenen Schauspieler Otto Kukla und Crescentia Dünßer gabs auch gute Nachrichten fürs Bochumer Prinz-Regent-Theater und seinen Geschäftsführer Jürgen Fischer: Arnsberg schickte einen Förderscheck von 45.000 Mark und signalisierte auch Landesmittel für die folgenden Spielzeiten. Zusammen mit den Bochumer Zuschüssen sollte nun für Petra Afonin, Sibylle Broll-Pape & Co die künstlerische Zukunft gesichert sein.
Pitt Herrmann
George Tabori
My Mother's Courage (Mutters Courage)
Zelt-Ensemble Birach im Prinz-Regent-Theater Bochum