Ausländer liebe ich nicht.
Kreon in: „Medea“ von Hans Henny Jahnn
„Wer sich schämt, tut merkwürdige Dinge“ sagt Sophie, eine adrette, introvertierte, sympathische junge Frau in Claude Chabrols „La Ceremonie“, hierzulande als „Biester“ in den Kinos zu sehen. Sandrine Bonnaire spielt das Hausmädchen einer Fabrikantenfamilie, das zur Mörderin wird. Sie tötet kaltblütig, nachgerade aus einer Laune heraus, so grausam wie scheinbar ohne Motiv.
An diesen Streifen wird erinnert, wer die am 10. November 1995 in den Bochumer Kammerspielen herausgekommenen Produktion, der sechsten der Intendanz Leander Haußmanns, sieht: „Medea“ von Euripides in einer Inszenierung von Jürgen Kruse, in der Titelrolle seine Lieblingsschauspielerin Anne Tismer.
In der 430 v. Chr. entstandenen Tragödie, dem zweiten dramatischen Werk des Euripides (485 – 406 v. Chr.), das auf den griechischen Mythos von der Fahrt der Argonauten zurückgeht, haben Medea (Anne Tismer) und Jason (Steve Karier) zusammen mit ihren beiden Kindern Polyxenos (Inga Habicht) und Eriopis (Luisa Schallwig) samt Amme (Henriette Thimig) und Erzieher (Wolfgang Feige) Zuflucht beim korinthischen König Kreon (Heiner Stadelmann) gefunden. Obwohl Medea für den Griechen Jason das Goldene Vlies geraubt und ihm das Leben gerettet hat, verläßt er sie, um Glauke (Okka Tismer), die Tochter Kreons, zu heiraten. Vorgeblich, um seine Kinder aus ihrem elenden Flüchtlings-Dasein zu befreien.
Als Medea auch noch von Kreon verbannt werden soll samt ihren Kindern, beschließt sie, blutige Rache zu nehmen: sie tötet Kreon und dessen Tochter sowie ihre beiden eigenen Kinder – vor allem, um Jason zu treffen. Medea entflieht nach der Bluttat in einem Drachenwagen, den ihr der Sonnengott Helios, dessen Enkelin sie ist, schickt. Die Schlußmoral des Chors wirkt wie blanker Hohn: Zeus weiß auch dort einen Weg, wo der Mensch nicht begreift.
Medea ist bereits in der Fassung des Euripides gedeutet worden als Zusammenprall der frühasiatischen mit der früheuropäischen Kultur. Medea, die Kolcherin, wurde in Korinth als Fremde, als Außenseiterin empfangen und nie heimisch. Ihr maßloses Wesen war den griechischen Idealen entgegengesetzt, zudem fürchtete Kreon ihre göttliche Herkunft – und ihre Zauberkraft. „Ausländer lieb ich nicht“ sagt Kreon in Hans Henny Jahnns „Medea“-Fassung, die am konsequentesten die beiden kulturellen Welten gegenüberstellt. Bei Jahnn ist Medea eine Farbige, deren Unbedingtheit ihres totalen Liebes- und Lebensanspruchs den Haß einschließt – zuletzt häufig gespielt im Jahnn-Jahr u.a. in Wien, Bremen, Köln, Düsseldorf und am Gorki-Theater in Berlin.
In Stefan Mayers maritimem Environment, einem See- wie Seh-Stück von circensischer Buntheit („Roncalli“ gastiert gerade am Ruhrstadion) mit surrealistischen und dadaistischen Anspielungen („Ein Schiff wird kommen“), das die Gegenwärtigkeit der Vergangenheit offenbart, ist die Medea der Anne Tismer weder Zauberin noch Hexe oder auch nur ausgegrenzte barbarische Fremde in früheuropäisch-griechischer Kultur.
Sondern eine attraktive Kindfrau von katzenartiger Geschmeidigkeit, äußerlich der reine Liebreiz, innerlich knallhart. Sie wird zur Mörderin ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Kultur, Rasse, der Gegensatz von Leidenschaft und Vernunft spielen bei Jürgen Kruses grundsätzlicher Abkehr vom aufklärerischen literarischen Theater keine Rolle mehr.
„Du bist blöd“ wirft Medea Jason kurzerhand an den Kopf, bevor sie sich an seine Schulter gelehnt zum Schlußbild aufs Sofa setzt: hier werden keine „Einsichten“ vermittelt. Jahnns schwarze Medea taucht nur noch als Zitat auf (Okka Tismer, die Regieassistentin und Schwester von Kruses Muse, in der stummen Rolle der Glauke), der zentrale Botenbericht ist beim lakonischen Waldemar Kobus von jeglichem Pathos befreit – bei seinem kurzen „Vater unser“ leuchtet ein Neonkreuz über dem Parkett auf - und der auf Traute Hoess reduzierte Chor spricht das vorweggenommene Schlußwort: „Die größten Toren sind am Ende die, die auf Verstand und tiefes Denken pochen.“
Theater für die „Generation X“ ist der neue Jugend-Stil an der Bochumer „Kö“, die Bühnenästhetik findet ebenso Anklang beim von Vorgänger Frank-Patrick Steckel vergraulten jungen Publikum wie die Schnoddrigkeit der Programmbuch-Beiträge und der Soundtrack, der hier mit den Rolling Stones beginnt. Wir Älteren tun uns da naturgemäß noch schwerer mit dem Theater für das 21. Jahrhundert. Weshalb es nach zwei Stunden am Premierenabend auch kräftige Buh-Rufe fürs Leitungsteam gab. Anne Tismer als Medea hat Mitte Mai 1996 beim 15. NRW-Theatertreffen in Düsseldorf den Preis für die beste Schauspielerin erhalten.
Pitt Herrmann
Euripides
Medea
Schauspielhaus Bochum, Kammerspiele