Im wieder einmal ausgezeichneten Programmbuch zu Alfred Kirchners Bochumer „Räuber“-Inszenierung, die am 30. Mai 1984 das Licht der Theater-Welt erblickte, ist zumindest in aussagekräftigen Fotos nachzuvollziehen, wie Schillers Sturm-und-Drang-Epos seit der Mannheimer Uraufführung 1782 auf die Bretter gehievt worden ist: expressionistisch, sozialkritisch, deutschnational, naturalistisch, tagespolitisch. So ließ die APO grüßen bei Hansgünther Heyme 1966 in Wiesbaden, Peter Zadek im gleichen Jahr in Bremen und Hans Lietzau 1968 in München.
Nach Claus Peymanns Stuttgarter Inszenierung von 1975 sind fast zehn Jahre vergangen, Grund genug für das „nunmehr“ und schon wieder „noch“ genante Bochumer Ensemble, Schillers Jugendwerk erneut anzugehen. Alfred Kirchner, bekannt für experimentelle Inszenierungen und grandiose Erfolge wie Bertolt Brechts „Die heilige Johanna“ und Herbert Achternbuschs „Susn“ in der Heintzmann-Fabrik, Dario Fos „Hohn der Angst“ und Peter-Paul Zahls „Elser“, Thomas Bernhards „Über allen Gipfeln“ und Gerhart Hauptmanns „Weber“, versetzt die „Räuber“ in ihre Entstehungszeit.
Der junge Friedrich Schiller schrieb das „Trauerspiel“, so der Untertitel des Erstdruckes 1782, als Zögling der Karlsschule und Thomas Mann notierte 1955 in seinem „Versuch über Schiller“: „Aber das Lächeln, das wir uns gelegentlich zu verbeißen haben vor Schillerscher Grandiosität, gilt einem Ewig-Knabenhaften, das zu ihm gehört, dieser Lust am höheren Indianerspiel, am Abenteuerlichen und psychologisch Sensationellen, an der Plutarch-Biographie des Extremen, ungeheurer Tugend und erhabenen Verbrechens...“
Und so beginnt, hier hat Kirchner bei George Tabori gelernt, der erste Akt statt im Moorschen Schloß im Schlafsaal der Stuttgarter Akademie (Ausstattung: Vincent Callara und Gero Troike). Doch es wird keine Schüleraufführung, obwohl die von Kirchner meisterlich geführte junge Garde des Bochumer Ensembles alle Rollen besetzt, auch die der Amalia. Hier zeigt Ulrich Wesselmann bewunderungswürdiges Talent.
Kirchner hat die „Räuber“ weder vordergründig aktualisiert, noch zum Klassiker deutscher Bühnendramatik hochstilisiert. Er ist bemüht, mit einer die viereinhalb Stunden (!) andauernden durchaus auch kurzweiligen Leichtigkeit die Ansprüche dieses Frühwerks herauszuarbeiten. Wobei der Regisseur stets bemüht ist, das Pathos des Sturm und Drang abzumildern.
Benno von Wiese, durch seine Schüler Schrimpf und Klussmann Nestor auch der Bochumer Germanistk, sieht in der Figur des Franz Moor (Christian Berkel) die Verkörperung des Skeptizismus und des Materialismus der Philosophie der Aufklärung. Moors metaphysische Zweifel an der Ordnung der Welt beziehen sich zugleich jedoch auf die Beziehung zwischen Gott und Mensch.
Franz, der sich auf Kosten seines Bruders, des Erstgeborenen Karl (Matthias Redlhammer), in die Erbfolge setzt und den Vater (Thomas Schendel) mit Hilfe gefälschter Briefe erst in den Hungerturm, dann in den Tod treibt, ist determiniert durch die soziale und gesellschaftliche Ordnung.
Auch Karl ist ein Kind seiner Zeit: unruhige Leipziger Studentenjahre machen aus dem Lieblingssohn des Grafen (äußere Schönheit, Intelligenz, Karriere) einen heruntergekommenen Räuberhauptmann in den böhmischen Wäldern, der durch Selbstjustiz Freiheit und Gerechtigkeit erstreiten will. Die Dialektik von Mittel und Zweck ist aktueller denn je.
Doch Kirchner beläßt dem Stück auch alle trivialen, melodramatischen Teile, will vor allem lebendiges Theater mit jungen, talentierten Schauspielern: Dietmar Bär, Hansa Czypionka, Robert Giggenbach, Hans-Dieter Knebel, Joachim Krol, Otto Kukla, Armin Rohde und Rupert J. Seidl. So kurz vor Saisonende ist mit dieser „Räuber“-Inszenierung ein großer Wurf gelungen: ein Sieg der Akteure über die Interpreten, ein Sieg des Schauspieler- über das Regietheater.
Pitt Herrmann
Friedrich Schiller
Die Räuber
Schauspielhaus Bochum