Vor einigen Tagen sah ich "Onkel Wanja". Man kann unmöglich schön und klar sagen, was dieses Stück in der Seele hervorruft, aber ich hatte beim Anblick seiner Helden das Gefühl, als würde man mich mit einer stumpfen Säge zersägen. Für mich ist Ihr "Onkel Wanja" eine vollkommen neue Art dramatischer Kunst, ein Hammer, mit dem Sie dem Publikum auf die leeren Schädel schlagen.
Maxim Gorki im November 1898 an Anton Tschechow
Christof Nel, der sich in erster Linie als Opernregisseur einen Namen macht, wagt sich Mitte November 1988 bei seiner ersten Bochumer Regiearbeit auf schwieriges Sprechtheater-Parkett. Tschechows "Onkel Wanja" will er nicht als resignatives Endspiel inszenieren, sondern im Stil einer Tragikomödie auch die "lustigen Seiten" herausarbeiten.
Seine vierstündige Produktion verdient das intendierte Prädikat "zärtlich": Nel führt behutsam aus dem Geist des späten 19. Jahrhunderts heraus Regie und verzichtet auf alle vordergründigen Aktualisierungen und Politisierungen. Und kann sich dabei auf ein vorzügliches Ensemble stützen, allen voran Peter Roggisch, Willem Menne, Rolf Schult, Jochen Tovote - und einer großartigen Tana Schanzara. Der ein Achtungserfolg gelang wie schon lange nicht mehr: Endlich wieder eine richtige Rolle für die sonst nur auf Typenklischees festgelegte Hernerin.
Warum das Publikum am Premierenabend dennoch so kräftig buhte? Weil Christof Nel die vor allem von Peter Stein an der Berliner Schaubühne geweckten wie gelenkten ästhetischen Erwartungen nicht nur nicht erfüllt hat, sondern bewußt nicht hat erfüllen wollen. Auch die Kritiker haben diesen Ausbruch aus der deutschen Tschechow-Rezeption nicht honoriert. Allen voran Frank Busch in der "Süddeutschen Zeitung", der ein "Endspiel" konstatierte, auch bezogen auf die zuvor herausgekommene Bochumer "Amphitryon"-Inszenierung Urs Trollers.
Susanne Raschig hat eine moderne Bühne mit wenigen typischen Requisiten gebaut: vor großen Spiegelglas-Flächen ein langer, derber Holztisch mit Samowar und Tana Schanzara als strickender Kinderfrau Njanja. Auf der rechten Seite hinter Glaswand und Vorhang wird ein kleiner Konzertflügel sichtbar, auf dem eine Gitarre steht. Links eine verschachtelte, gereihte Front von bühnenhohen schwarzen Stoffbahnen, einer der Zwischenräume gewährt Platz für eine Schaukel - kleine Reminiszenz an Tschechows "Drei Schwestern".
Susanne Raschig nutzt die technischen Möglichkeiten der Drehbühne des Großen Hauses: die Welt Tschechows und seiner Figuren auf dem Landgut Serebrjakovs dreht sich nur ganz allmählich. Und das hin und zurück, in beiden Richtungen - ein Bild des Stillstands. Peter Roggischs Ivan Petrovic und Willem Mennes Arzt Astrov betreten die Bühne leichten Schrittes mit dem Ausruf: "Sie kommen, sie kommen." Und schon schwingt ein leicht ironischer Unterton mit.
Der Glas-Spiegel reflektiert in warmem, bräunlichen Licht das weite Land, mit knorrigen Bäumen, das zwischen den Stoffbahnen im Hintergrund sichtbar wird. Ein äußerst behende auftretender Peter Roggisch läßt beinahe in Thomas Bernhardscher Diktion eine grandiose Schimpfkanonade gegen die gelehrte Wissenschaft ab, vorgetragen mit expressiver Kraft, die seinem äußeren Anschein eines stark gealterten Mannes widerspricht.
Christof Nel inszeniert kein Schaubühnen-Remake, legt keinen Wert auf die Dominanz des Atmosphärischen, sondern läßt direkt, offen, heiter und bisweilen gar mit Witz agieren. Ein eifersüchtiger Peter Roggisch und ein interessierter, die Aussichtslosigkeit seines Tuns wohl einkalkulierender Willem Menne umschwärmen die anmutig-fröhliche Elena. Angelika Buddecke gibt die junge Gattin des emeritierten Professors, dabei ausgiebig die Schaukel linkerhand nutzend.
Roggischs Ivan Petrovic (Onkel Wanja) ist ein sarkastischer, desillusionierter Mann, der gelangweilt zur Kenntnis nimmt, wie sich Katharina Tüschen als seine Mutter Marija Vasiljevna in scholastische Redensarten flüchtet - und mit angewidertem Staunen beobachtet, wie sie mit Willem Mennes Astrov flirtet. Und der wenige Augenblicke später flüsternd um Elena herumtänzelt wie eine Biene um eine nektarreiche Blüte.
Jochen Tovote gibt den verarmten Gutsbesitzer Ilja Iljic Telegin, dem die Frau davongelaufen ist, mit gewohnter Routine, die er auf der Gitarre beim Vortrag ländlich-volkstümlicher Weise zu steigern weiß. Die philosophische Hymne auf den Wald, die Willem Menne arg deklamatorisch an der Rampe vorträgt, ist als deutsch-russischer Öko-Appell zwar seit der Jahrhundertwende bis heute aktuell, hier aber spürt man die Absicht - und schaltet ab.
Noch vor der Pause mutiert Susanne Raschigs Bühne zum Kunst-Objekt, die an die kalten monochromen Konstruktionen des Münchners Gerhard Merz erinnert, "die mythisch nicht belastbar, psychologisch nicht aufschlüsselbar und kein Versprechen sind": von fluoreszierendem Licht indirekt beleuchtet verdeckt eine schräg gestellte blaue Platte die festlich gedeckte Tafel. Malerei scheint den Raum zu durchdringen wie bei Frank Stella, doch es handelt sich hier nicht um ein Reliefbild, sondern um eine Installation, einen kubischen und sehr farbintensiven Fanfarenstoß.
Szenen einer Ehe: Rolf Schults Professor Aleksandr Vl. Serebrjakov als räsonierender Alter, der einmal sein Innerstes preisgibt, und Angela Buddeckes scheinbar selbstlos liebende Elena, die das selbstquälerische Gefasel des Alten nicht mehr ertragen kann.
Panoptikum skurriler Typen: Annelore Sarbach, immer wieder ein Hochgenuß, gibt Sonja, des Professors Tochter aus erster Ehe, als verhärmtes und darob um so lüsternes Weib, das Willem Mennes Arzt nachsteigt, welcher sich wiederum mit der Schnapspulle begnügt oder allenfalls einen nicht minder lüsternen Blick auf Elena wirft. So kompliziert ist das bei Tschechow und so einfach ist das von Nel gelöst: Zwei junge, attraktive Schwärmerinnen bekunden ihre Liebe zum Doktor.
Nach der Pause hat sich die Bühne gedreht. Die Spiegelfläche links begrenzt den Salon mit Flügel und zwei Stuhlreihen für die Hausmusikabende. Peter Roggisch, der immer mehr einem balzenden alten Hahn gleicht und somit einer lächerlichen Figur, sieht hilflos zu, wie Angela Buddecke als seine junge Gattin aus reiner Langeweile alle verrückt macht: der Doktor, weder schön noch hinreißend oder interessant, wie es im Nebentext bei Tschechow heißt, von der eines hellen Mondes gleichenden Ausstrahlung ganz zu schweigen, vergißt den Wald, Onkel Wanja die Landwirtschaft und Sonja hat sich von Elenas Müßiggang anstecken lassen.
Angela Buddecke läuft im Dialog über Sonjas Liebe zu großer Form auf: Ihre Elena ist einerseits mädchenhaft-scheu und schüchtern, andererseits eine zunehmend gerissene Spielerin, selbst Liebende und Geliebte. Der zarte und zerbrechliche Schmetterling häutet sich zum Raubtier. Und Peter Roggisch, der sein Gut und damit sein Lebenswerk mit emphatischem Ausdruck und ungeahnter Vehemenz verteidigt, hat sich vom Philosophen zum Bauern gewandelt, der mit sich und seinem verpfuschten Leben abrechnet.
"Ganter schnattern und sie hören wieder auf": Tana Schanzaras Einwurf der lebensklugen Kinderfrau vermag Roggischs Gefühlsaufwallung der Ausweg- und Hoffnungslosigkeit jedoch nicht zu mildern. Und doch geht bei allem Furor das Leben weiter...
"Mußten meine Augen das sehen!" Der Stoßseufzer Tana Schanzaras wird am Ende, das sich arg in die Länge zieht, von vielen Premierenzuschauern geteilt. Arbeiten, um das Leben zu ertragen. Kann man gerade hier im Pott nachvollziehen. Aber Dialoge wie die zwischen Menne und Roggisch unter Daunenkissen im Bett oder zwischen Roggisch und Buddecke lasziv auf dem Piano steigern die Unruhe im Parkett kurz vor Anbruch der vierten Stunde. Zum Schluß packt Willem Menne seine Zeichenutensilien zusammen - mit roter Clownsnase im Gesicht.
Pitt Herrmann
Anton Tschechow
Onkel Wanja
Schauspielhaus Bochum