In diesem Stück habe ich zwei Dinge miteinander verbunden, die marxistische Schriftsteller normalerweise auseinander zu halten suchen. Es sind das: Die persönliche Biographie und der historische Determinismus. Wonach Xenia und Marthe suchen, ist eine Erklärung dafür, was sie sind, was sie geworden sind. Und das können sie nur, indem sie wahre Begebenheiten beschreiben. Sie suchen nach einer Aussage über die Gerechtigkeit.
Edward Bond
Leise rauscht die Brandung, blauer Himmel, in der Ferne einige matte Lichtpunkte. Glatte, weißgekalkte Hausfassaden, zwei Säulen – Ferienstimmung. Wir befinden uns auf der Terrasse eines in den Felsen gebauten Hauses im jugoslavischen Dubrovnik.
Gerade ist die attraktive Londoner Boutiquenbesitzerin Xenia (Nicole Heesters) mit ihrer Tochter Ann (Andrea Clausen) ins alljährliche Urlaubsdomizil gejettet, an die Stätte ihrer Kindheit. Denn die Villa ist ihr Elternhaus, und die jetzige Bewohnerin Marthe (Katharina Tüschen) war bis Kriegsende das Dienstmädchen hier. Ihr Sohn David (Stefan Hunstein) praktiziert als Arzt in der Klinik, die sie nach 1945 mit aufbaute.
Erste atmosphärische Brüche deuten die poröse Oberfläche der Idylle an: Xenia sucht mit herrischem Gepolter ihre Kofferschlüssel. Und Marthes Abgespanntheit entpuppt sich als tödliche Krankheit: Lymphosarkom. David erläutert den Befund mit erbarmungsloser Genauigkeit.
Andrea Breth inszeniert Edward Bonds 1982 in London uraufgeführtes Stück „Sommer“ nach Freiburg im Jahre 1985 (bereits mit Katharina Tüschen und Stefan Hunstein) nun ein zweites Mal in den Bochumer Kammerspielen, Premiere war am 16. April 1987. Über die Vergangenheit, sagt die Regisseurin, muß man sprechen, darf sie nicht verdrängen oder gar vergessen.
Die Vergangenheit in „Sommer“ ist die Zeit der deutschen Besetzung Jugoslaviens im Zweiten Weltkrieg. Xenias Vater, ein Kapitalist, dem „die halbe Stadt“ gehörte, lavierte zwischen den Fronten: auf der einen Seite ein freundschaftliches Verhältnis zu den Besatzern, die auf einer zu seinem Besitz gehörenden Insel Geiseln erschossen, auf der anderen Seite Kontakte zum Widerstand.
Nach Kriegsende ergriffen Kommunisten die Macht, enteigneten Xenias Vater und steckten ihn ins Gefängnis, wo er wenig später starb. Das Kind entkam mit knapper Not nach England. Und kehrt nun als wohlhabende Karrieristin alljährlich in den armen Ostblockstaat zurück („Wenn man genug Wirbel macht, treiben die alles auf“), um die Geschichte zu leugnen und den Vater zu verteidigen: „Er hat sich benommen wie jeder andere in seiner Stellung. Jemand muß dafür sorgen, daß die Welt funktioniert.“
Am Angesicht des Todes bäumt sich Marthe ein letztes Mal gegen diese Art von Selbstgerechtigkeit auf: „Schüttle den Staub von deinen Füßen. Ich rate dir gut. Du bist hier nicht mehr daheim. Du bist eine Fremde.“ Und: „Wer deine Familie geachtet und geliebt hat, den hat sie dazu gebracht, Freundlichkeit mit Gerechtigkeit zu verwechseln. Das verdirbt.“
Marthe hat nach Kriegsende Xenias Vater belastet, obwohl dieser sie vor der Geiselerschießung bewahrte. Gutmütigkeit ist jedoch kein Ersatz für Gerechtigkeit: „Ungerechtigkeit ist immer ein Zustand von Wahnsinn.“
Hatte Luc Bondy 1982 bei der Deutschen Erstaufführung in den Münchner Kammerspielen eine grelle Konfrontation der beiden damals von Doris Schade und Cornelia Froboess verkörperten Frauen inszeniert, so hält Andrea Breth in Bochum an ihrem mit den „Riesen vom Berge“ und „Süden“ begonnenen „Theater der Sinnlichkeit“ fest: Atmosphärische Bilder mit einer Tiefenstruktur, die jede krasse Zuordnung in Schwarzweißmanier scheut.
In Wolf Redls offenbar von Susanne Thalers „Gartenhaus“-Landschaft im Münchner Resi inspirierten Bühne spielt Katharina Tüschen eine alte, müde Frau, die sich mit dem Tod abgefunden hat („Im ewigen Leben gäbe es keine Zukunft“), die ein letztes Mal aufbegehrt, um Xenia ihre Wahrheit ins Gesicht zu sagen – und zu spucken.
Nicole Heesters glänzt einmal mehr als lebensgierige, attraktive, selbstgerechte Frau, die die Wahrheit verdrängt bis zum bitteren Haßausbruch des einstigen Dienstmädchens Marthe. Andrea Clausen ist ein zartversponnenes, aber auch keck-mädchenhaftes Wesen, das sich etwas sprunghaft zur selbständigen Frau entwickelt, als sie sich für das Kind im Leib und gegen den Vater des Kindes, David, entscheidet.
Dieser wird von Stefan Hunstein zu geckenhaft gegeben, sein David ist eher der Typ eines mediterranen Club-Animateurs denn eines um seine todkranke Mutter besorgten Arztes. Rolf Schult schließlich spielt die Karikatur eines Pauschal-Touristen und „ungebrochenen“ Landsers: Bonds etwas aufgesetzt wirkende Verkörperung der Banalität des Bösen.
Andrea Breth hat gegen das Kanzler-Wort von der „Gnade der späten Geburt“ inszeniert. Aber „Sommer“ ist auch ein Stück über Frauen, über Krankheit, Tod und Verdrängung. Ein dreieinhalbstündiges Theater der Sinnlichkeit und, im Schillerschen Sinn, Theater als „moralische Anstalt“. Mit solcher Konsequenz – und solchen Ergebnissen – arbeiten im deutschsprachigen Raum nur noch Claus Peymann und Jürgen Flimm.
Die erst 34jährige Andrea Breth ist ein Glücksfall für Bochum. Ihre drei Inszenierungen „Die Riesen von Berge“, „Süden“ und „Sommer“ gehören zum besten, was das deutschsprachige Theater derzeit zu bieten hat – und ragen monolithisch aus den Neuproduktionen der ersten Steckel-Spielzeit an der „Kö“ heraus. Sie will Geschichten erzählen: „Theater ist doch etwas Sinnliches. Da muß man heulen können, lachen können, sich unheimlich verlieben.“
Mit Luigi Pirandellos „Riesen vom Berge“ schuf Andrea Breth ein poetisches Gegenbild zum lärmenden, auf äußere Effekte zielenden Theater Peter Zadeks. In einer dichten Atmosphäre entfaltet sich der Zauber der Bühnenwelt, eines Theaters, daß zugleich das Theater infrage stellt. Sinnvoller läßt sich eine Spielzeit, läßt sich eine neue Intendanz nicht eröffnen.
Die spielerische Leichtigkeit, diese unverkrampfte Schauspielerführung setzte sich in Greens „Süden“ fort: „Ich wollte ein Stück finden, bei dem die Zuschauer sich in ihre Schauspieler verlieben können.“ Ein „Breitwandfilm“ über die Unfähigkeit der Menschen, über ihre Empfindungen, ihre Liebe zu reden. Andrea Breth: „Das Phänomen Liebe interessiert mich. Was das ist. Das kommt in jeder meiner Arbeiten vor.“ So auch jetzt in Bonds „Sommer“.
Pitt Herrmann
Edward Bond
Sommer (Summer)
Schauspielhaus Bochum, Kammerspiele