„Vier Leute suchen das Glück – und finden den Tod“ (Ernst Stötzner): In Goethes Roman „Die Wahlverwandtschaften“ ziehen sich Eduard und seine Jugendliebe Charlotte, die er endlich heiraten konnte, auf sein Landgut zurück, um in der Einsamkeit ganz füreinander da sein zu können. Sie widmen sich der aufwendigen Gestaltung der Parkanlagen und bauen ein neues Haus.
Auf Eduards Wunsch kommt sein alter Freund, der in Not geratene Hauptmann Otto, auf das Schloß, dem bald darauf Charlottes Nichte und Pflegetochter Ottilie folgt. Mit dieser Figurenkonstellation beginnt ein in der Naturwissenschaft als „Wahlverwandtschaft“ bezeichnetes Kräftespiel von Anziehung und Abstoßung, das dem 1809 erschienenen Roman den Titel gab: Bestimmte chemische Elemente lösen bei der Annäherung anderer Stoffe plötzlich ihre bestehenden Verbindungen und vereinigen sich mit den neu hinzugetretenen Elementen.
Zu Goethes Zeit wurden naturwissenschaftliche Erkenntnisse in vielfältiger Weise auf das menschliche Leben übertragen. So findet in den „Wahlverwandtschaften“ der chemische Vorgang Anwendung auf das sittliche Problem von individueller Freiheit und gesellschaftlicher Notwendigkeit. Während Charlotte und Otto versuchen, sich ihrer wachsenden Neigung entschlossen zu widersetzen, gibt sich Eduard seiner unbedingten, maßlosen Liebe zu Ottilie hin. Die lebt in ahnungsloser Unbewusstheit bald nur noch für ihn...
Die „Wahlverwandtschaften“ sind Ende Januar 2004 in einer Textfassung des Dramaturgen Andreas Erdmann, die er zusammen mit dem Regisseur Ernst Stötzner für das Schauspielhaus Bochum erstellte, in den Kammerspielen herausgekommen.
Petra Korinks Pawlatschenbühne, halb Bauernstadl, halb Globe-Theatre, deren Hintergrundprospekt eine Goethe-Landschaft ziert, ist trotz des Vogelgezwitschers, das die Zuschauer im Parkett empfängt, alles andere als eine Idylle: Drei Gräber künden gleich zu Beginn vom bitteren Ende des Dramas, das sich mit seiner „armen“ Ästhetik bewusst von den bekannten Cinemascope-Verfilmungen (etwa die der Gebrüder Taviani u.a. mit Isabelle Huppert) absetzt.
So hält sich Ernst Stötzner bei seinem Extrakt aus über 400 Romanseiten nicht lange mit „Gefühlskino“ auf, sondern kommt gleich zur Sache. Eduard (Thomas Huber), Charlotte (Dreh- und Angelpunkt der Inszenierung: Dörte Lyssewski), Otto (Patrick Heyn) und Ottilie (Nadja Petri kann erst im zweiten Teil die große Persönlichkeit dieser Figur offenbaren) als Protagonisten in einem zunächst eher kühlen psychologischen Experiment, das dem Regisseur nach der Pause zunehmend entgleitet, weil er zu großen Wert auf Nebenfiguren (etwa Antje Charlotte Sieglin als Charlottes Tochter Luciane) legt und dabei zentrale Figuren wie den Architekten (Manuel Bürgin) bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt.
Wer den Roman nicht kennt, hat große Probleme, der „Schauergeschichte“ (Stötzner) zu folgen. Das ist besonders bedauerlich in einer Szene, bei der Goethes Symbolismus sehr überzeugend visualisiert wird: Der fliegende Partnertausch beider „Paare“ als Überblendung von Traum und Wirklichkeit.
So fiel, für Bochumer Verhältnisse, der Beifall des Premierenpublikums eher verhalten aus. Regisseur Ernst Stötzner, nach seinen Gründen befragt, Goethes Roman auf die Moritatenbühne zu stellen: „Der Blick auf Goethe ist heute der Blick auf das Fremde – und das Erstaunen darüber, dass es einem so fremd nun wieder nicht ist.“ In den Bochumer Kammerspielen kommt einem binnen dreier Stunden einiges ganz fremd vor.
Pitt Herrmann
Andreas Erdmann nach dem Roman von Johann Wolfgang von Goethe
Die Wahlverwandtschaften
Schauspielhaus Bochum, Kammerspiele