Man sollte niemals Partei nehmen. Parteinahme ist der Beginn der Lauterkeit, dieser folgt kurz darauf der Ernst, und zuletzt steht man als Langweiler da.
Das „Resi“ erstrahlt in neuer Pracht. Der Zuschauerraum hat eine neue, bequeme Bestuhlung, das Foyer wartet mit postmodernem Chic auf, ist aber sehr protzig und paßt daher bestens in diese sehr auf Äußerlichkeiten bedachte „Weltstadt mit Herz“. Das Panorama-Cafe im Obergeschoß ist allerdings eine Wucht: Nach Einbruch der Dunkelheit sieht man durch hohe Scheiben hinaus auf den Vorplatz – hierin dem Schauspielhaus Bochum nicht unähnlich. Freilich nur was die tolle Sichtmöglichkeit betrifft...
Als designierter Intendant eben dieses Theaterschiffes an der Bochumer „Kö“ hat Leander Haußmann am Silvesterabend des Jahres 1994 im Münchner Residenztheater Oscar Wildes 1894 entstandene, Mitte Februar des folgenden Jahres im St. James-Theatre uraufgeführte Komödie „The Importance of Being Earnest“ inszeniert in einer eigenen Fassung, die sich explizit auf die Erstübersetzung Hermann Freiherr von Teschenbergs aus dem Jahr 1903 bezieht.
Diese gibt sich very british: humorvoll, wortwitzig und sehr ironisch. Ganz so wie Oscar Wilde selbst über sein letztes – und erfolgreichstes - Bühnenstück witzelte: „Man sollte alles Triviale mit großem Ernst und alles Ernste mit schrankenloser und kunstvoller Trivialität behandeln.“ Ein Stück wie speziell für Leander Haußmann und ein von seiner Mutter Doris opulent-extravagant eingekleidetes Ensemble geschrieben, deren Namen allein Garanten für einen grandiosen (Publikums-) Erfolg sind: Anne-Marie Bubke, Margit Carstensen, Steffi Kühnert, Regine Lutz, Traugott Buhre, Ralf Dittrich, Wolfgang Hinze und Oliver Stokowski. Mit zwei Worten: München leuchtet.
Und das bei einem an der Isar überaus erfolgreichen („Romeo und Julia“), zuletzt aber höchst umstrittenen Regisseur, dessen vorherige Einstudierung, Wolfgang Maria Bauers „In den Augen eines Fremden“, nicht nur wenig Lorbeeren erntete sondern zum handfesten Skandal mutierte: Obwohl zu den „Stücke“-Tagen nach Mülheim eingeladen, durfte sie nicht an die Ruhr reisen, obwohl beim wichtigsten Autorenfestival des deutschsprachigen Theaters die Dramen im Mittelpunkt stehen, nicht die Regisseure.
Doch zurück zu „Bunbury“: Drei Stunden dauert das hochkarätigst besetzte Spektakel, trotz des arg klamottigen Endes und mancher allzu billigen Witze keine Minute zu lange. Denn es ist schon allein eine Freude, dem großen Traugott Buhre als Lane/Merriman zuzuschauen. Etwa wenn er seinen Butler-Status vergessend seinen Herrn frech vom Kanapee verdrängt. Und zuzuhören, obwohl er als Diener nicht viel zu sprechen hat. Doch Leander Haußmann wirft keine Perlen vor die Säue, sondern läßt ihn zur Doppel- in eine weitere Rolle schlüpfen – als altersweiser und wohl auch altersmilder Autor Oscar Wilde. Mit kleinen Gesten, kurzen Blicken, minimalistischer Körpersprache – und grandios formulierten Weisheiten, die nicht im „Bunbury“-Text stehen. Die zu hören ebenso große Freude bereiten wie die Stücklektüre zuvor (in der Übersetzung Paul Baudischs für die Hanser-Ausgabe).
Leander Haußmann läßt seinen Schauspielern ungebremst jegliche Gelegenheit, dem Affen reichlich Zucker zu geben. Was nach Boulevard klingt, ist hochartifizielles manieristisches Theater: Kurz vor dem Kulminationspunkt stoppen die bis dahin hemmungslosen Rampensäue ab, allen voran die beiden Erzkomödianten Oliver Stokowski als wohlhabender Naivling John Worthing und DDR-Import Ralf Dittrich als nur zu Beginn leicht melancholischer Lebemann par excellence Algernon Moncrieff. Aber auch der Rest des Ensembles ist außerordentlich gut drauf, vom süßen Madel Cecily Cardew alias Anne-Marie Bubke, Naivität gepaart mit Lolita-Versuchung und dem abgeklärten Charme der Film-Mädchenfrau Brooke Shields, über Steffi Kühnerts bis unter die Haarspitzen gefrustete Gwendolen Fairfax bis hin zur Lady Bracknell der völlig überdrehten Margit Carstensen im Stil (beileibe nicht im Umfang) der schrillen Ulknudel Dame Edna.
Die hohe Schule der Schauspielkunst zelebrieren Regine Lutz als gar nicht so trockene Gouvernante Miß Prism und Wolfgang Hinze als Pfarrer Dr. Kanonikus Chasuble mit Sprachfehler und Hinkebein. Nach solchen slapstickhafte Petitessen dürstet das von Frank-Patrick Steckel ausgehungerte Bochumer Publikum.
Michael Gottfried, für die musikalische Einrichtung zuständig, hat einen konstituierenden Beitrag zum grandiosen Erfolg dieser Inszenierung geleistet: er schafft eine zusätzliche Ebene, indem er ganz unterschiedliche Kompositionen, die Bandbreite reicht von Gregorianischen Gesängen bis hin zu Beatles-Songs, mit inhaltlichem Bezug zum Bühnengeschehen so montiert, daß sie letzteres in entscheidenden Momenten ironisch brechen.
Auch Bernhard Klebers Bühnenbild trägt ein Gutteil zur Verfremdung und (selbst-) ironischen Distanzierung bei: very british wird alles, was auf der Insel an Traditionen lieb, teuer und heilig ist, auf die Schippe genommen. Dabei werden diese skurrilen Schrullen keineswegs dem schallenden Gelächter des Parketts preisgegeben: Man schmunzelt zwar über den Snobismus, bewundert andererseits die liebenswert-exotischen Snobs. Ganz im Sinne Lady Bracknells: über die feine Gesellschaft ziehen nur diejenigen her, die keine Chance haben, ihr anzugehören.
Als die Münchner Produktion Mitte Dezember 1995 im Schauspielhaus Bochum Revier-Premiere feiert, gibt es nur eine einzige, freilich gewichtige Umbesetzung: Wolfgang Feige für den erkrankten Traugott Buhre. Ein enormer Verlust, für den freilich der „Ersatz“ nicht in Haftung genommen werden kann: Leander „Ernst“ Haußmanns Inszenierung lebt ganz wesentlich von der enormen Bühnenpräsenz Traugott Buhres. Allein seine zumeist ja stumme Anwesenheit auf der kreisrunden Bühnenscheibe, seine den Diener-Figuren Lane und Merriman entsprechenden alltäglichen Hantierungen und Verrichtungen, sind konstituierend. Vor allem: Buhre erzählt eine eigene Geschichte mit seiner wie ein antiker Chor kommentierenden, die Handlungen der anderen Personen häufig konterkarierenden Mimik und Gestik, auch wenn sie noch so spärlich eingesetzt wird.
Pitt Herrmann
Oscar Wilde
Bunbury oder: Von der Bedeutsamkeit Ernst zu sein (The Importance of Being Earnest)
Bayerisches Staatsschauspiel, Residenztheater im Schauspielhaus Bochum