Zwei Männer in einem durch schwarze Rollos an den drei Fenstern zunächst völlig abgedunkelten und, wie sich wenig später zeigen wird, bis auf zwei Sessel völlig leeren Raum mit zwei Türen und einer „sprechenden“ Säule (Stimme: Veronika Bayer). Julius (intellektueller Souverän: Ernst Stötzner) zieht die Rollos hoch, im Dunst wird allmählich die gegenüberliegende Hausfassade sichtbar.
Während Olaf (in sich gekehrter Schweiger, aber auch verschmitzter Beobachter: Burghart Klaußner) teilnahmslos vor sich hin sieht und darob von Julius gescholten wird, blickt dieser aus dem Fenster, kommentiert das Gesehene: „Da kommt eine im kniekurzen Rock – bei der Kälte! – in schwarzen Strumpfhosen und atmet in den Kragen ihres grüngoldenen Lamepullis. Hübsche Karausche. Schreckliche. Schon im Gehen hat sie etwas Hingefläztes, Faules, Illustriertenblätterndes, Lockenwicklerhaftes, Bildschirmbleiches.“
Kaum gesagt, klingelts an der Tür und die „Hübsche Karausche“ (flott mit kecker Ballonmütze: Catrin Striebeck) stellt Julius zur Rede: „Haben Sie eben über mich geredet? Sind Sie das? Was erzählen Sie da? Bildschirmbleich und illustriertenblätternd – Sie kennen mich doch gar nicht. Sie sehen mich hier von Ihrem Fenster zum ersten Mal und fällen gleich ein abschätziges Urteil über mich. Was wissen Sie von mir? Nichts.“
Diesem furiosen Einstieg in das 1989 an der Berliner Schaubühne uraufgeführte Stück „Die Zeit und das Zimmer“ von Botho Strauß, das Dieter Giesing im November 2005 in einer völlig zu Recht am Premierenabend heftig umjubelten Neuinszenierung in den Bochumer Kammerspielen herausgebracht hat, folgen weitere merkwürdige, zunächst völlig unerklärliche Großstadtneurotiker-Miniaturen.
Ein „Mann ohne Uhr“ (Paukus Manker) schneit herein und behauptet, in der vergangenen Nacht hier ein Fest gefeiert und dabei seine Armbanduhr vergessen zu haben. Wenig später gesellt sich eine Frau, „Die Ungeduldige“ (Ulli Maier) hinzu, die darauf brennt, die Liaison vom Party-Vorabend mit ihm fortzusetzen.
Frank Arnold (Martin Horn) ist der nächste in der Tür, der sich bei der „Karausche“, ihr Name ist Marie Steuber, dafür entschuldigt, um fünf Minuten zu spät am Flughafen erschienen zu sein, um sie abzuholen. Ein „Mann im Wintermantel“ (Marc Oliver Schulze) hat eine junge, in tiefen Schlaf verfallene Frau (Lea Draeger) aus einem brennenden Haus gerettet und legt die unbekleidete Last auf einem der beiden Stühle ab. Ein „Völlig Unbekannter“ (Martin Rentzsch) stürmt herein, um die „Schlaffrau“ kurzerhand auf den Schultern wieder hinauszutragen, die jedoch wenig später wieder auftaucht und von Julius als Dinah, „ein Pfeiler meiner Vergangenheit“, erkannt wird. Am Ende, nach einer Stunde, verschwindet Marie Steuber in der Säule...
Dieser magische Augenblick markiert aber nur scheinbar das Ende des Stücks, das sich in den nun folgenden rund vierzig Minuten retrospektiv erschließt - ein Verfahren, das Roland Schimmelpfennig in jüngerer Zeit bis zur Serienreife perfektioniert hat. In acht kurzen, skizzenhaften Blackout-Szenen wird Marie Steuber zum Dreh- und Angelpunkt alltäglicher Grotesken. Beruflich, privat, sexuell und intellektuell geht es stets um das Duell Mann gegen Frau, das Luc Bondy in seiner ebenfalls großartigen und doch so ganz anderen (Uraufführungs-) Inszenierung am Lehniner Platz einmal auch ganz handfest als Boxkampf austragen ließ zwischen seiner Protagonistin Libgart Schwarz und Michael König als Marie Steubers Chef Ansgar.
In Berlin hatte Bondy die filigrane Sprachkunst des neuerdings für Schwarz-Grün werbenden bürgerlichen Intellektuellen Botho Strauß in schwebend leichte, hauchzarte szenische Petitessen wattiert, virtuose Kabinettstückchen eines erlesenen Ensembles um Peter Simonischek, Udo Samel, Tina Engel, Gerd Wameling und, als „Völlig Unbekannter“, Ernst Stötzner. Kulinarik pur, modisch leicht unterkühlt.
Regie-Altmeister Dieter Giesing setzt jetzt in den Bochumer Kammerspielen, in die Bühnenbildner Karl-Ernst Hermann augenzwinkernd ironisch die ehemalige (WG-) Wohnung des Autors und seinerzeitigen Schaubühnen-Dramaturgen unweit des Kudamms gebaut hat, völlig andere Akzente, und das ist bereits an der Besetzung ablesbar.
Statt der fernnervigen, hypersensiblen Neurotikerin Marie Steuber, wie sie die göttliche, inzwischen an der Wiener „Burg“ umjubelte Libgart Schwarz verkörperte, nun die schöne, unmittelbare, sich ihrer Wirkung bewusste Catrin Striebeck, das personifizierte Rätsel („Diese Frau ist ein Joker. Jeder kann sie in sein Spiel für die Zwecke benutzen, die ihm gerade günstig erscheinen“) als ein geerdeter Luftgeist von enormer Bühnenpräsenz. Und doch steht Marie Steuber in Bochum nicht mehr so eindeutig im Mittelpunkt von Stück und Inszenierung.
„Wir genießen die gemeinsame Seelenruhe, die innere Schönheit: nichts zu wollen. Und doch liegt uns manchmal der Plan auf der Zunge. Leuchtet die Idee im Auge. Aber Ideen sind scheu. Schon mit dem ersten Wortlaut sind sie verschwunden. Es wird niemals von uns ein Plan gefasst werden. Er ist nicht zu fassen. Wenn man alles genau durchdenkt. Wenn man alles sorgfältig mit sich geschehen lässt.“: Statt Peter Simonischek und Udo Samel als „zwei sich liebende Skeptiker“ nun Ernst Stötzner und Burghart Klaußner als Julius und Olaf.
Ein Komiker-Duo dort wie hier, das auf zwei Sesseln nebeneinander und doch einander abgewandt sitzt. Was Luc Bondy in Berlin noch opulent ausspielen ließ, hat Dieter Giesing jetzt in Bochum minimalistisch in Szene gesetzt: Ein schwules Paar, das schon lange keinen Besuch mehr in seiner Wohnung empfangen hat und nun, mit sparsamster Gestik und Mimik, über Zeit-Verlust und Zeit-Verschwendung, Missverständnisse und verpasste Gelegenheiten philosophiert.
Nur einmal darf Bundesfilmpreisträger Burghart Klaußner („Die fetten Jahre sind vorbei“) aus der Haut fahren und sich nicht nur verbal entäußern: Er macht ein umjubeltes, kabarettreifes Virtuosenstück daraus.
Julius und Olaf haben diese Paare und Passanten in ihrer leergeräumten, klinisch weißen Wohnung herbeigesehnt. Und sind letztlich doch heilfroh darüber, dass der Klammerblues zwischen Olaf und „der“ Steuber folgenlos geblieben ist, was Olaf sogleich mit einem kleinen Freudentänzchen quittiert. Diese beiden bilden das Zentrum, um das sich die Besucher scharen in Dieter Giesings großartigem Schauspieler-Theater. „Besucher“ ist die Botho Strauß-Trilogie betitelt, deren Mittelteil „Die Zeit und das Zimmer“ darstellt und deren Schlusspart „Sieben Türen“, Ende der 80er Jahre von Frank-Patrick Steckel in Bochum inszeniert, formal und inhaltlich die acht Episoden aus „Die Zeit...“ wieder aufgreift.
Zum tollen neunköpfigen Ensemble gehört übrigens mit Paulus Manker ein Schauspieler, Dramatiker („Alma“) und Filmemacher („Weiningers Nacht“), der in seiner österreichischen Heimat Kultstatus genießt und hier als „Mann ohne Uhr“ und besonders als Ansgar weniger den Macho herauskehrt als den Bohemien in schwarzem Outfit und wehender Langmähne.
Pitt Herrmann
Botho Strauß
Die Zeit und das Zimmer
Schauspielhaus Bochum