In Franz Kafkas Romanfragment „Amerika“, begonnen 1912 unter dem Titel „Der Verschollene“, wobei zu Lebzeiten nur das erste, in sich geschlossene Kapitel „Der Heizer“ 1913 als Erzählung erschienen ist, wird der 16jährige Karl Roßmann von seinen in Prag lebenden Eltern nach New York in die Obhut eines Onkels geschickt, weil er daheim vom böhmischen Dienstmädchen verführt worden ist – mit bleibenden Folgen.
Bei der Ankunft in den Vereinigten Staaten wird Karl von einem Heizer des Ozeandampfers in dessen Kabine beinahe gewaltsam aufgehalten, obwohl dadurch die begründete Gefahr besteht, dass sein Koffer mit all' seinen Wertgegenständen verloren geht. Paul macht sich dennoch die Sache des ihm bis dato völlig unbekannten Mannes zu eigen und verteidigt ihn gegenüber den Vorgesetzten.
Dabei trifft Karl auf seinen Onkel, den vermögenden Senator Edward Jakob, der ihn bei sich aufnimmt, ihm Englisch- und Reitunterricht ebenso ermöglicht wie das Klavierspielen. Als Karl von Bankier Pollunder, einem Geschäftsmann und engen Freund des Onkels, auf dessen Landsitz eingeladen wird, sagt er trotz mannigfacher Bedenken Jakobs zu: Der Abwechslung wegen und weil ihn dort Pollunders Tochter Klara erwartet.
Doch das unbändige amerikanische Girl macht sich nur einen Spaß mit dem naiven jungen Deutschen, den es noch in der Nacht zurück nach New York zieht. Allein ihm bleiben alle Wege versperrt und als die Glocke Mitternacht schlägt, wird Paul ein Brief samt Fahrkarte nach San Franzisko ausgehändigt: Onkel Jakob will ihn nicht mehr sehen.
Unterwegs zur nächsten größeren Stadt, Ramses, trifft Karl mit Delamarche und Robinson auf zwei arbeitslose Schlosser, die zu Fuß unterwegs sind. Als er ihnen ein Abendessen spendieren will, kommt Karl mit der Oberköchin des Hotels Occidental ins Gespräch, seiner Landsmännin Grete Mitzelbach aus Wien. Die ihm sogleich einen Job als Liftboy verschafft und verspricht, auch sonst ein mütterliches Auge auf den Jungen zu werfen, der sich seinerseits rasch mit der 18jährigen Sekretärin Therese Berchtold anfreundet, die aus Pommern stammt.
Doch schon bald ist Karl den schönen Job wieder los, weil er den betrunkenen Robinson, der plötzlich nachts im Hotel aufgetaucht ist, in seinem Schlafsaal-Bett hat seinen Rausch ausschlafen lassen. „Es ist unmöglich, sich zu verteidigen, wenn nicht guter Wille da ist“: Der Oberkellner, hierin unterstützt vom Oberportier, der später auch vor Gewalt nicht zurückschreckt, lässt Karl noch nicht einmal zu Wort kommen. Am Ende muss der Gemobbte und fristlos Entlassene auch noch die Flucht ergreifen.
Und landet erneut bei den zwielichtigen Gestalten Delamarche und Robinson, wobei ersterer zum Liebhaber der vermögenden Kakaofabrikantenwitwe Brunelda auf- , letzterer zu deren Bedientem abgestiegen ist. Dem wiederum Karl nun zur Hand gehen soll, was erneut nicht ohne Gewalt abgeht, nachdem Karl vergeblich versucht hat, der Umklammerung dieses Trio infernale zu entkommen...
Im achten, unvollendeten Schlusskapitel „Das Naturtheater von Oklahoma“ des erstmals 1927, also drei Jahre nach dem Tod Kafkas, erschienenen Romans „Amerika“ steht Karl Roßmann einmal mehr vor einem Neuanfang – als Künstler oder doch zumindest technischer Mitarbeiter des „größten Theaters der Welt“. Das klingt vielversprechend und utopisch zugleich, zumal der Erzähler angesichts der zwei Tage und zwei Nächte dauernden Zugfahrt nach Oklahoma zu berichten weiß: „Jetzt erst begriff Karl die Größe Amerikas.“
Doch der vielfach als nachgerade paradiesische Erlösung durch die Freiheit der Kunst interpretierte Epilog liest sich wie die sieben Kapitel zuvor, mit denen er durch zwei Personen nur sehr locker verbunden ist, als eine Abfolge sprichwörtlich-kafkaesker Situationen der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins unbekannter höherer Mächte gegenüber. Auch insofern ist „Amerika“ ein Vorläufer der späteren Kafka-Romane „Der Proceß“ und „Das Schloß“: Karl Roßmann ist ein von äußeren Umständen und noch mehr von Menschen Getriebener, der die großen bürokratischen Apparate weder auf dem Ozeandampfer noch im Hotel oder gar im sich „Naturtheater“ nennenden Gewirr von Kanzleien durchschaut, der sich eine blutige Nase nach der anderen holt bei dem stets zum Scheitern verurteilten Versuch, im Land der unbegrenzten Möglichkeiten ein selbstbestimmtes Leben zu führen.
„Amerika“, in der Dramatisierung Max Brods seit der Zürcher Uraufführung 1957 ein freilich ganz seltener Fall für die Bühne, ist nun vom vielfach preisgekrönten Warschauer Regisseur Jan Klata und Bochums Dramaturg Olaf Köck in einer eigenen Fassung auf die Bretter an der Königsallee gestellt worden. Und das überaus erfolgreich, nimmt man den enormen Jubel nach pausenlosen 150 Minuten am Premierenabend nicht nur als Befreiung aus unbequemer Sitzposition.
Der 38jährige Warschauer nimmt Kafka wörtlich – als Verschollenen. In der phantasievollen Ausstattung seiner Landsleute Mirek Kaczmarek (Kostüme) und Justyna Lagowska wird für jedes der sieben Kapitel eine neue Bilderbuchseite aufgeschlagen, denen skurrile Typen in schrillen Outfits entspringen. So wird aus der Mütze eines deutschen Gymnasiasten eine Ku-Klux-Klan-Kappe, so macht der Pollunder des Manfred Böll den Weihnachtsmann und der Green des Daniel Stock das giftgrüne Männchen. Was von vielen Premierengästen als sehr lustig empfunden worden ist.
Zum Auftakt des sehr bildmächtig-theatralischen Stationendramas werden der nackte Heizer (Werner Strenger) und der nette Junge Karl Roßmann (Bochums Publikumsliebling Dimitrij Schaad mit enormen Körpereinsatz) von einer Phalanx martialischer Football-Giganten verhört, die auch dem naivsten böhmischen Jungen den Traum von Amerika austreiben könnten. Der im übrigen bei seinem Onkel (Andreas Grothgar) zuallererst das Schießen lernt.
Zum Schießen sind auch die Charlie Chaplin- und Buster Keaton-würdigen Slapstickeinlagen, unterlegt mit Western- („Walk the Line“), Pop- und Filmmusik (u.a. von Chaplin-Streifen) eines völlig aufgedrehten elfköpfigen Ensembles, das mit Ausnahme Dimitrij Schaads in so viele Rollen schlüpfen muss, dass kaum individuelle Entwicklungen möglich sind. Aber herrliche Parodien, und die beste betrifft mit Maja Beckmann einen weiteren Publikumsliebling des Hauses: Kristina-Maria Peters gibt die Therese als jüngere und jedenfalls noch ausgeflipptere Kopie der von der Hernerin verkörperten Oberköchin (und zuvor die vor allem langbeinige Pollunder-Klara).
Weil das Hotel bei Kafka Occidental heißt und nahe der Stadt Ramses liegt, und überhaupt für das polnische Leitungsteam Amerika heute nur noch aus kommerzieller Popkultur und gewinnmaximierender Disneyland-Simulation längst untergegangener kultureller Wirklichkeiten besteht, gibt’s in Bochum son et lumiere-Budenzauber wie an den Pyramiden im ägyptischen Gizeh oder im Hotel Luxor in Las Vegas. Später wird Karl Asyl gewährt in einem chromeglitzernden Mobilhome vor Wüstenkulisse mit Flamingos (!) - von einem zottelbärtigen Motorrad-Freak und einer monströsen Sängerin (Roland Riebeling als Brunelda).
Am Ende, im hier rein ironisch verbratenen Epilog, der auf drei aus dem Zusammenhang gerissene, aus dem Off gesprochene Sätze zusammengestrichen ist, bleibt kein Raum für eine reinigende, ja erlösende Kraft der Kunst. Sie hat sich wie in der Inszenierung Jan Klatas, die in ihren besten Szenen, so mit dem Studenten Josef Mendel (Ronny Miersch), immer wieder an das absurde Theater Samuel Becketts erinnert, überhaupt als schmückendes, folgenloses Beiwerk zu begnügen. In Bochum begreift Karl die Größe Amerikas, indem er verloren auf einen eher schmutzig-grauen denn blauen Planeten blickt.
Gegen diese sich zwar etwas oberlehrerhaft-alteuropäisch gerierende Analyse der Neuen Welt ist nichts einzuwenden, nur mit Kafka und seinem „Amerika“ hat das nichts zu tun. Der 264seitige Roman liegt im übrigen bei Fischer in einer wohlfeilen Taschenbuchausgabe vor.
Pitt Herrmann
Franz Kafka
Amerika
Schauspielhaus Bochum