Hans Dampf hat ausgedient so kurz vor dem Jahreswechsel in der Hauptstadt: ein Schauspieler erobert nicht nur die Herzen der stolzesten Frauen, vornehmlich das seiner kongenialen Bühnenpartnerin Dagmar Manzel, sondern kann auch Emotionen wecken als Milchmann Tevje in "Anatevka". Eine Rolle, für die der Berliner Max Hopp noch viel zu jung erscheint. Aber der Schein trügt.
Nach Leopold Brandmeyer im "Weißen Rößl" und umtriebiger Manzel-Partner in "Eine Frau, die weiß, was die will" an der Komischen Oper scheint der "Ernst Busch"-Absolvent, der schon im Deutschen Schauspielhaus Hamburg, in den Münchner Kammerspielen und dem Schauspielhaus Zürich auf den Brettern stand, auf das Rollenfach des so schwer zu machenden Leichten abonniert zu sein.
Jedenfalls ist Max Hopp als unglücklich verliebter Zimmerkellner Albert in Paul Abrahams Lustspieloperette "Märchen im Grand-Hotel" ebenso eine Wucht wie, dann ohne Serviertuch überm Arm, als Moderator der mit Ovationen gefeierten heurigen konzertanten Weihnachtsoperette an der Behrenstraße. Sie steht leider nur noch einmal, am 30. Dezember 2017, auf dem Spielplan, kann aber am Silvesterabend ab 20.10 Uhr als Mitschnitt auf Deutschlandfunk Kultur wenigstens akustisch genossen werden.
Wobei einem die so noch nicht gesehene Tanzwut Philipp Meierhöfers ebenso entgeht wie Tom Erik Lies hinreißender Auftritt als standesgemäß-matronenhafte Gräfin Inez Pepita de Ramirez, von den nicht nur langen, sondern auch in rasender Geschwindigkeit steppenden Beinen des hochexplosiven australischen Musical-Vulkans Sarah Bowden und der exquisiten Robe der amerikanischen Sopranistin Talya Lieberman einmal ganz abgesehen.
Die am 28. März 1934 im Theater an der Wien uraufgeführten Operette ist von Barrie Kosky, Intendant des seit vielen Jahren spannendsten Opernhauses der Hauptstadt, szenisch eingerichtet worden. Adam Benzwi, der als musikalischer Leiter bereits Abrahams "Ball im Savoy" zum Repertoire-Hit an der Komischen Oper werden ließ, eröffnet mit "Märchen im Grand-Hotel" einen neuen fünfteiligen Zyklus mit Werken des jüdisch-ungarischen Komponisten Paul Abraham (1892 bis 1960). Restkarten für die letzte Vorstellung am 30. Dezember 2017 unter komische-oper-berlin.de oder Tel. 030 - 47 99 74 00.
An Tickets für "Anatevka", dem mit über 500 Aufführungen seinerzeit größten Erfolg der Felsenstein-Intendanz an der Komischen Oper, heranzukommen, könnte schwierig werden. Denn Barrie Koskys Neuinszenierung mit dem Traumpaar Max Hopp (Tevje) und Dagmar Manzel (seine Frau Golde) an der Seite u.a. von Talya Lieberman (ihre Tochter Zeitel) war schon zur Premiere mehrere Monate im voraus ausverkauft.
"Wenn ich einmal reich wär'": Jerry Bocks Musical von 1964 ist an der Behrenstraße ein zu Herzen gehendes Requiem auf den nicht nur, aber nicht zuletzt auch von Deutschen beförderten Untergang der ostjüdischen Schtetl-Kultur. Und wenn am Ende die Bewohner Anatevkas, des kleinen Dorfes irgendwo im großen russischen Zarenreich, aufgefordert werden, binnen drei Tagen ihre Heimat zu verlassen und ihre wenigen Habseligkeiten auf Wagen laden, um in alle Welt - und bevorzugt in die Neue Welt - auszuwandern, dann konnotieren wir Deutsche ganz andere Bilder.
Aus dem Graben befeuert vom Musical-Spezialisten Koen Schoots lässt Kosky, dessen Vorfahren selbst aus einem weißrussischen Schtetl stammen, im ersten Teil ein Feuerwerk an Leidenschaft und Lebenslust abbrennen mit großen Tableaus samt Chor und zehnköpfigem Tanzensemble. Im zweiten Teil inszeniert der Intendant dann ein überwiegend düsteres, nachdenklich stimmendes Kammerspiel: die aus der Geborgenheit der Gemeinschaft gespeiste Lebensfreude ist dahin, es droht die Ausweisung oder gar ein Progrom. Eiseskälte liegt in der Luft - nicht nur jahreszeitlich bedingt: der Rabbi (Peter Renz) steht mit dem Rücken zum Publikum allein im Schnee neben einem sich durch Plünderer rasch lichtenden Möbelstapel.
Damit hier kein falscher Eindruck entsteht: Barrie Koskys "Anatevka" ist nicht nur eine auch autobiographisch motivierte sentimentale Rückschau auf eine untergegangene Welt, sondern vor allem bildmächtige Musical-Unterhaltung mit ausgelassenen Massenszenen, melancholischen Reminiszenzen und überschäumendem (Liebes-) Glück. Das Neben- und Miteinander von kurzweiligem Spaß, herzzerreißender Trauer und tödlichem Ernst macht das Besondere dieses Musicals aus und begründet seinen bis heute ungebrochenen Erfolg.
Karten sind nach aktuellem Stand nur noch für die Vorstellungen am 3., 11. und 16. März, 1. und 29. April sowie im Rahmen des Komische Oper Festivals am 15. Juli 2018 erhältlich unter Tel. 030 - 47 99 74 00. Als zweite Neuproduktion zum 70-jährigen Bestehen der Komischen Oper stellt Stefan Herrheim am 17. März 2018 seine Lesart eines weiteren legendären Felsenstein-Erfolges an der Behrenstraße vor, Jacques Offenbachs Operette "Blaubart".
Zu Jahresbeginn 2018 stehen u.a. die Operette "Die Perlen der Cleopatra" von Oscar Straus (mit Dagmar Manzel in der Titelpartie) und zwei Mozart-Blockbuster auf dem Spielplan, Herbert Fritschs herrlich schräger "Don Giovanni" und "Die Zauberflöte" mit den Animationen der britischen Truppe "1927". Unter der musikalischen Leitung von Stefan Soltesz inszeniert Calixto Bieito am 21. Januar 2018 die nächste Premiere an der Komischen Oper: "Die Gezeichneten" von Franz Schreker.
Pitt Herrmann